2009-Heimfahrt: Tirano -> Sulzbach (Bahn)


Um 6:00 Uhr morgens schau ich auf den Wecker, wälze mich noch bis 7:00 Uhr hin und her, ich kann einfach nicht schlafen. Aber ist ja auch egal, mir schwirren sowieso nur tausend Gedanken durch den Kopf.

Was steht heute auf dem Plan?

  • Zuerst muss ich mich darum kümmern, wie wir schnellstens Heim kommen.
  • Dann alle bereits gebuchten Hotels absagen.
  • Apropos Absage, eigentlich hatten wir ja geplant, dass unsere Frauen zum Gardasee kommen und wir gemeinsam eine Woche dort Urlaub machen. Das Hotel haben wir bereits gebucht und bezahlt. Das muss ich auch noch klären.
  • Danach zu Jürgen fahren.
  • Und wenn alles gut geht, zum Schluss die Heimreise antreten.

Jetzt aber eins nach dem anderen. Ich steige unter die Dusche, ziehe mich an und gehe zum Frühstück. Jetzt merke ich, wie einfach doch dieses Zweisterne Hotel ist, denn es gibt nur ein klassisches italienisches Frühstück: 2 trockene Semmeln, 1 Toastbrot und 3 Konfitüre. Echt krass! Wenigstens der Kaffee schmeckt, alles andere ist mir irgendwie egal, Hunger habe ich sowieso keinen großen. Die zwei Brötchen würge ich irgendwie in mich hinein.

8:00 Uhr, ich mach mir Gedanken, wie wir von Tirano nach Hause kommen. Also schaue ich auf den Stadtplan, entdecke den Bahnhof und begebe mich erst einmal auf den Weg dorthin. Laut Plan ist der knapp einen Kilometer von hier entfernt. Ich laufe los. Wie versunken ich in meiner Gedankenwelt bin fällt mir erst am Bahnhof auf. Warum laufe ich den ganzen Weg? Ich hätte doch mein Bike nehmen können, wäre schneller gewesen. Der Spaziergang tut mir aber merklich gut.

Am Bahnhof angekommen, treffe ich auf, natürlich, nur italienisch sprechendes Personal. Mit Hand und Fuß versuche ich mich zu verständigen. Ich suche die schnellste Verbindung, natürliche inklusive Fahrradmitnahme, nach Frankfurt am Main? Nach drei Minuten und etlichen Computereingaben bekomme ich die ernüchternde Antwort: Einzige Möglichkeit über Milano einmal am Tag mit insgesamt 20 Stunden Fahrzeit und unendlich vielen Umsteigestationen!

Das geht nicht, ich muss ja die Räder und den Rucksack schleppen. Die nächste Abfahrt ist heute Abend um 20:00 Uhr, was bedeuten würde, wir kommen am nächsten Tag erst Nachmittags gegen 16:00 Uhr in Frankfurt an. Das ist mir zu stressig und dauert viel zu lange für Jürgen. So ein Mist, das kann ich ihm nicht zumuten. Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, aber welche?

Ich telefoniere erst mal mit meiner Frau und gehe diverse Möglichkeiten mit ihr durch, die sie bitte in Erfahrung bringen soll:

  • Informationen über einen Leihwagen.
  • Wie sieht es mit einem Flug aus, wo ist der nächste Flughafen und was würde es kosten?
  • Gibt es eine schnelle Möglichkeit, an den Gardasee zu gelangen, dann könnten unsere Frauen uns abholen. Aber die Fahrt dorthin dauert ja auch lange. Das wäre wegen dem Faktor Zeit die letzte Alternative.

Ich verabschiede mich von Simone, wir werden später nochmals telefonieren und eventuell nach weiteren Lösungsansätzen suchen. Mittlerweise ist es schon 8:30 Uhr, ich laufe zurück zum Hotel und richte ein paar Dinge für Jürgen her. Vom Hotel aus lasse ich mir ein Taxi rufen und mache mich mit einem Rucksack frischer Klamotten auf zu Jürgen.

9:30 Uhr. War es im dritten oder vierten Stock. Das Krankenhaus ist ein riesiger Komplex, unendliche viele Zimmer. Ich lauf die Treppen hoch und finde doch tatsächlich auf Anhieb Jürgens «Appartement». Und das ohne GPS-Gerät. Er liegt im Bett, Besuch vom Arzt war heute Morgen natürlich noch keiner da, aber wenigstens haben sie ihm eine Infusion mit Nährstoffen gelegt. Wie ich von Ihm erfahre, hat er nachts noch einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Kein Wunder, er hatte wie ich den ganzen Tag nichts anständiges gegessen. Sein Frühstück war ähnlich wie das meine. Trockene Semmeln und Marmelade.

Ich wasche Ihn erst einmal und ziehe ihm die mitgebrachten Klamotten über. Für uns ist jetzt nur wichtig herauszufinden, ob Jürgen transportfähig ist oder im schlimmsten Fall eine Operation notwendig wäre. Nach ewiger Wartezeit wird es mir zu dumm, ich suche die Schwester auf, um Näheres zu erfahren. Von selbst kommen die wohl nicht auf uns zu, die lassen einen links liegen. Wir sollen uns in ein Wartezimmer setzten, der diensthabene Arzt wird gleich kommen. Na danke, woher sollen wir das den wissen. Hätte ich nicht gefragt würden Jürgen morgen noch im Bett liegen!

Um es kurz zu machen, es dauert sage und schreibe weitere zwei Stunden, bis wir einen Patienten antreffen, der Englisch und Italienisch kann. Ich habe ihm unsere Situation erklärt, dann geht alles plötzlich ganz schnell. Er hilft uns, vermittelt zwischen Arzthelferin und dem «Herrn Doktore». Nach einer halben Stunde spricht der Arzt mit uns und wir bekommen das Ergebnis. Wir dürfen nach Hause, Jürgen ist transportfähig, sollen aber zuhause umgehend einen Arzt aufsuchen. Das ist wohl klar, hätten wir sowieso gemacht!

12:00 Uhr. Jürgen bekommt einen Kreuzverband, damit er die Schulter nicht bewegen kann, dazu eine Handvoll Schmerztabletten und eine Thrombosespritze. Eine hat er gleich bekommen, die andere soll er sich auf der Reise selbst spritzen. Jetzt wartet die Helferin auf einen Computerausdruck, den wir unterschreiben sollen. Der kommt aber pardauz nicht aus dem Drucker. Nach 15 Minuten wird es selbst ihr zu dumm, sie holt ein kariertes Ringbuch, schreibt irgendetwas auf Italienisch rein und Jürgen soll seine Unterschrift darunter setzen. Da schauen wir und gegenseitig an und müssen aufpassen, dass wir nicht anfangen zu Lachen. Was Jürgen da unterschrieben hat, wissen wir bis heute nicht. Wieder lassen wir uns ein Taxi rufen und warten am Hospitaleingang – ab geht die Reise zum Hotel. Drei mal 35,00 Euro macht 105,00 Euro alleine für das Taxi, aber egal, wir sind ja davon abhängig gewesen.

Im Hotel packen wir ein wenig zusammen und ich sage zu Jürgen: „Ich will es nicht glauben, dass es nur diese eine Verbindung nach Hause gibt, komm wir laufen nochmals zum Bahnhof.“ Jetzt kommen wir von einer anderen Straßenseite zum Hauptbahnhof und da bemerke ich, dass es hier noch einen Schalter gibt, den Schweizer Teil des Bahnhofs. Ohh man – hab ich den das letzte Mal wirklich nicht gesehen? Vielleicht durch die Aufregung und Hektik tatsächlich nicht. Glücklich diskutiere ich mit der freundlichen, deutsch sprechenden Dame und wir finden einen schnelleren Weg über die Schweiz nach Hause. 450 Franken inklusive Bike-Mitnahme für zwei Personen! Das sind knapp 650,- Euro, Wahnsinn! 12,5 Stunden Fahrzeit mit nur fünfmaligem Umsteigen bis zum Frankfurter Hauptbahnhof. Jürgen fackelt nicht lange, zückt seine EC-Karte und bezahlt. „Bevor wir noch lange rum machen und heute überhaupt nicht mehr hier weg kommen, bezahl ich das Geld gerne.“ Gesagt, getan. Ich rufe parallel unsere Frauen an. Sie sind erleichtert, dass es nun doch so schnell geht.

Übrigens: Ein Flug ist viel teurer, Leihwagen geht über die Grenze nur mit sehr großem Umstand und ist auch sehr teuer. Bus geht keiner, und der Weg zum Gardasee wäre viel zu umständlich und langwierig, denn unsere Frauen müssten ja erst mal her, dann wieder zurückfahren. Aber egal, wir haben eine Lösung, wenn auch sehr teuer erkauft. Wir laufen zurück zum Hotel, packen unsere sieben Sachen und machen die Bikes abfahrbereit. Dann bezahlen wir noch die Unterkunft, die Jürgen gar nicht benutzt hat. Aber egal.

14:30 Uhr soll die Reise los gehen. Übrigens haben unsere Frauen gleich im Heimatkrankenhaus angerufen, Jürgen wird gleich nach Ankunft nachts nochmals untersucht und wenn eventuell nötig sofort operiert, besser ist besser!


Die Heimreise – eine Odyssee 
Mit dem Zug von Tirano nach Frankfurt

13:45 Uhr. Wir sitzen in Bahnhofsnähe in einem Biergarten und lassen uns eine Pizza schmecken. Endlich was nahrhaftes zwischen die Zähne. Alkoholfreies Bier schmeckt uns beiden auch wieder und bringt verlorene Energie zurück. Zum Schluss noch ein Eis am Bahngleis, als wir auf den Zug warten. Die Schmerztabletten wirken, für Jürgen ist es einigermaßen erträglich. Er darf nur keine hektischen Bewegungen in seiner Bandage machen.

14:30 Uhr. Der Zug fährt pünktlich ab. Wir sitzen in einer typisch roten Schweizer Rhätischen Bahn. Ich schaue aus dem Fenster heraus, um mir die Bergwelt anzusehen, da fällt mir auf, welche Strecke wir hier eigentlich gerade fahren. „Hey Jürgen, wir kommen genau an der Unfallstelle vorbei!“. Wir schauen beide auf die berühmte Stelle und Jürgen meint: „Jetzt benutzen wir auch noch den Übeltäter – welch eine Ironie“. Ich nicke und hab dann gleich ein paar Bilder zur besseren Veranschaulichung und anschließender Reflexion gemacht. Eine tolle Strecke ist es dennoch, wir schauen wehmütig aus dem Fenster und genießen die letzten Eindrücke einer fantastischen Bergwelt. 

Es geht vorbei am Gletschereis und über den Berninapass auf 2.253 Meter. Wir kreisen in den Kehrtunnels der Albulastrecke und überqueren das weltberühmte Landwasser-Viadukt. Seit Sommer 2008 gehört die Strecke von Tirano nach Thusis zum UNESCO-Welterbe. Die in ersten Teilabschnitten 1908 eröffnete, von Beginn an elektrisch betriebene meterspurige Berninabahn überquert den Pass seit 1910, seit 1913 auch im Winter. Die mit Blick auf gute touristische Erschließung der landschaftlichen Schönheiten angelegte Linie folgt weitgehend der Route Bernina-West. Mit ihrer bei der Station Ospizio Bernina erreichten Scheitelhöhe von 2.253 Meter gilt sie als höchste Alpentransversale. Zur Nutzung der Wasserkraft wurden am Nord- und Südende des Lago Bianco Staumauern errichtet. Der nutzbare Inhalt des Stausees beträgt etwa 18 Millionen Kubikmeter.

Das Umsteigen klappt dank hilfsbereiter Mitfahrer bestens, auch die Fahrt selbst kann Jürgen ohne größere Probleme überstehen. Die Schmerztabletten tun ihr Bestes. Obwohl manches Mal sein schmerzverzerrtes Gesicht was anderes aussagt. Ich glaube ihm, wir haben ja keine andere Wahl! Sonst klappt alles wie am Schnürchen. Wir sitzen im Zug, dösen vor uns hin bis wir einige Stunden später in Basel am Hauptbahnhof ankommen.

Wir suchen auf den Schautafeln unsere Zugverbindung und das Abfahrtsgleis. Erst jetzt, als wir die weitere Verbindungsgleise suchen merken wir, dass ab Basel bis Frankfurt ein ICE auf unseren Fahrkarten steht. Wer sich auskennt, weiß, was jetzt kommt. In einem ICE dürfen keine Fahrräder transportiert werden! Schluck! Was machen wir jetzt? Ich beratschlage mich mit Jürgen, dann sichert er uns zwei Sitzplätze direkt an einem Wagenübergang, danach verstauen wir unsere Rucksäcke und kurz bevor der Zug abfährt, hebe ich die beiden Bikes ins Abteil und stelle sie zwischen zwei Zugwagons. Jetzt hoffen und bangen wir.

Es dauert auch nicht lange, bis eine Kontrolleurin uns bedrohlich nähert. Noch 5 Sitze vor uns, 4, 3, 2, 1. “Wem gehören denn diese Fahrräder?” Ich erklärte ihr den Sachverhalt, dass wir dringend ins Krankenhaus müssten und es heute Nacht keine andere Zugverbindung gibt. Nichts zu machen. Wir sollen beim nächsten Halt aussteigen, Beamte! Sie will uns also in Freiburg rausschmeißen. Was tun? Unsere Sitznachbarn im Zugabteil haben alles mitbekommen und schütteln nur den Kopf.

Der Zug rollt weiter aus Basel heraus, da machen zwei Zollbeamte ihren Rundgang, laufen auch bei uns vorbei und wir kommen ins Gespräch. Sie sind sehr nett und verständnisvoll, können aber nichts machen, da dies nicht Ihr Zuständigkeitsbereich ist und hoffen bei dieser Ausnahme auf Kulanz der Angestellten der Deutschen Bahn. Wir auch!

In Freiburg kommt die Dame erneut auf uns zu, ich erkläre ihr, dass wir mit zwei Beamten, wahrscheinlich ihrem Vorgesetzte gesprochen haben und wir dürfen bleiben. Verdutztes Gesicht, erboste Haltung: “Mein Vorgesetzter”? Sie zischt ungläubig ab! Der Zug fährt los, wir sind wieder eine Station weiter!

Nächster Halt, die Dame und ihr «wirklicher» Vorgesetzter stehen erbost vor uns. Wir sollen und müssen hier sofort raus! Ich erklärte beiden nochmals unser Notsituation, die Sitznachbarn schüttelten alle den Kopf, nix zu machen, an dieser Station ist Schluss für uns! Während der “Herr Vorgesetzte” mir irgendetwas von Deutschen Bahngesetzen erklären will, habe ich eine Idee:

Ich packe kurzer Hand die Bikes, demontiere die vorderen und hinteren Laufräder und lege diese oben auf die Kofferablage unseres Zugabteils. Dann packe ich die beiden «leeren» Rahmen und lege diese quer zwischen unseren Sitz. Jürgen und ich nehmen Platz und hängen unsere Beine über den Rahmen.

Kurze Stille – dumme Gesichter!

So, Herr Schaffner, «DAS» ist jetzt mein HANDGEPÄCK! Oder können Sie mit diesem Rahmen Fahrrad fahren?”

Gelächter und grinsen bei allen Zuhörern, zwei hochrote Köpfe der Beamten und seit diesem Zeitpunkt haben wir nie mehr ein Wort miteinander gewechselt, geschweige denn, wurden wir je wieder angeschaut, obwohl sie an diesem Abend bestimmt noch dreimal an uns vorbei gelaufen sind. Der Rest der Fahrt verläuft ohne weitere Zwischenfälle.

Der Zug trifft um 3:00 Uhr nachts in der Halle des Frankfurter Hauptbahnhofs ein, unsere Frauen warten bereits am Eingang. Kurze und herzliche Begrüßung, Erleichterung und Freudentränen, dass doch noch alles geklappt hat. Ich baue die Bikes wieder zusammen, montiere sie auf dem Dachgepäckträger und es geht ab in die Heimat Richtung Krankenaus. Was für eine Nacht – alles wird gut!

Sonja und Jürgen haben uns daheim abgesetzt, denn helfen können wir jetzt auch nicht mehr. Im Krankenhaus wird Jürgen dann erneut gründlich untersucht, die gestellte Diagnose aus Italien hat sich bestätigt. 

 

Happy End

Was machen wir eigentlich mit unserem geplanten Urlaub am Gardasee? Simone und ich haben beschlossen, dennoch nicht darauf zu verzichten und den Urlaub anzutreten. Jürgen hat montags noch einen Termin bei einem Spezialisten, der sich den Haarriss im Schulterblatt genauer ansehen will. Mal gespannt was der noch herausfindet. 

Die Anreise zum Gardasee verläuft ohne nennenswerte Problem. Wir beziehen unser Hotel und erfreuen uns des tollen Wetters und der herrlichen Umgebung, aber immer in Gedanken mit Familie Flach. Schade, dass sie nicht hier sein können. Das Hotel konnte nur den ersten Tag der Buchung wieder vermieten, den Rest müssen die Flachs notgedrungen bezahlen. Eine Reiserücktrittversicherung hatten wir beide keine. 

Dienstag gegen 11:00 Uhr klingelt mein Handy und ich lese folgende SMS: „Liebe Familie Ruis, könnt ihr uns gegen 12:00 Uhr in Rovereto am Bahnhof abholen?“ Mein Frau und ich schauen verdutzt und überglücklich, den Empfang am Bahnhof begießen wir mit einer gekühlten Flasche Sekt und es wurden nochmals 5 tolle Urlaubstage.

Jürgen wurde untersucht, konnte zwecks der Schwellung erst zwei Wochen später am Schlüsselbein operiert werden. Heute befindet sich dort eine Platte mit mehreren Titanschrauben und der Heilungsprozess ist optimal verlaufen. Selbst der kleine Haarriss am Schulterblatt und die Rippen sind wieder vollständig verheilt. 

Die Planungen für den Alpencross 2010 können beginnen …

 

Vielen Dank fürs Mitlesen 

 

 


Das wäre der 7. Tag gewesen:

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Das wäre der 8. Tag gewesen:

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  6. Tag


 

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